Freiburg-Rieselfeld und das Modellprojekt Quartiersaufbau mit dem K.I.O.S.K. e. V.
Ausgangslage
Freiburg liegt in einem der bevorzugten dienstleistungsorientierten Zuzugsräumen Süddeutschlands. Sie zählt zu den wenigen deutschen Großstädten, die jährlich noch deutliche Bevölkerungsgewinne verzeichnen. Um der daraus resultierenden zunehmenden Wohnverknappung Herr zu werden, entschied man sich Ende der 1980er Jahre – trotz großer Widerstände aus der Bevölkerung – zur Ausweisung eines neuen Wohnquartiers für 11.000 Einwohner/innen.
Noch bis Mitte der 1980er Jahre entsorgte die Stadt Freiburg teilweise ihre Abwässer auf natürliche Weise durch Verrieselung – ein Rieselfeld mit 320 ha Fläche entstand. 1986 schloss man das Feld und ließ es einige Jahre ruhen. 1991 beschloss der Gemeinderat 238 ha der Fläche unter Landschaftsschutz zu stellen und 78 ha zu bebauen.
Die intensive Diskussion um den Bau des neuen Stadtteils brachte klare politische Vorgaben. Sie zielten vor allem darauf aus Fehlern und Erfahrungen mit vorherigen Stadterweiterungen, vor allem in Form von Großsiedlungen, zu lernen. Aber damit war nur der Grundsatz beschlossen. Die nachfolgenden Fragen waren entscheidender: Nach welchen Prinzipien baut man heute einen neuen Stadtteil? Wie organisiert man den Planungs- und Bauprozess, die Partizipation und Selbstorganisation der Bürger/innen? Wie finanziert man das? Wie erzeugt man räumliche Identität? Und was daran kann für ähnliche Projekte interessant sein?
Es wurde Wert darauf gelegt, dass die Infrastruktur nicht hinterher hinkt, sondern parallel zum Bau der Wohn- und Geschäftshäuser entsteht. So waren die öffentliche getragene Herstellung von Kindertagesstätten, Kinderhaus, Schulen, Sportstätten, nachbarschaftlichen Begegnungsräumen und öffentlichem Nahverkehr etc. das Gebot der Stunde und kein Appendix. In einem neu entstehenden Stadtteil wie dem Rieselfeld, das sich als städtisches Quartier entwickeln soll, vollzieht sich der soziale und ökonomische Wandel parallel und gleichzeitig gesamtgesellschaftlich und stadtteilbezogen. Grundsatz war, dass Vielfalt den neuen Stadtteil auszeichnen sollte. Er sollte unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und Milieus Raum geben und dabei offen für zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen sein. Von Anfang an sollte sich deshalb das soziale und kulturelle Leben gleichzeitig zur entsprechenden Ausrichtung von Städtebau, Architektur, Verkehrs- und Freiräumen sowie ökologischen Maßnahmen, also parallel zum baulichen Wachsen entwickeln. Die hierfür konsequente Mischung und Balance unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen hieß für das Wohnen: unterschiedliche Gebäude- und Wohnungsformen als Eigentums- sowie Mietwohnungsbau ermöglichen die gewünschte Vielfalt. In Folge wurden kleine Parzellen zur Zielvorgabe – für die Entfaltung der menschlichen Dimension.
Ein solches Konzept verbindet spezifische Lebens- und Erlebnisinhalte sowie Aktivitätsmuster von Stadtbewohnern, bestimmte Milieus mit bestimmten Raumstrukturen.
Stadträumlich, soziales Konzept
Die Bebauung erfolgte in vier Bauabschnitten. Der Stadtteil wurde in Kleinstparzellen untergliedert, die jeweils einzeln an möglichst viele Investoren und Bauherrn verkauft wurden. Augenfälligstes Merkmal sind im Zentralbereich die kompakten Viertel des mehrgeschossigen Mietwohnungsbaus. Zumindest im Innenbereich trägt dieses räumliche Grundgerüst als Blockrandbebauung und mit hoher Bebauungsdichte (vier Geschosse plus Attikageschoss). Hiervon wurden eine größtmögliche Vielfalt der architektonischen Gestaltung sowie eine breite soziale Differenzierung der Bewohnerschaft erhofft. Öffentliche urbane Räume, die Fußgängern als Kommunikations- und Aufenthaltsbereiche dienen können, sollten zudem durch Verkehrsberuhigung und -minimierung entstehen. Weitere bauliche Grundbedingungen für urbanes Leben, nämlich für spezifische Lebensstile und bestimmte städtische Organisationsmuster gestaltete Milieus, ließ der Entwurf nicht erkennen. Diese mussten sich nach Ansicht der Planer von „selbst“ herausbilden.
Heute ist im Zentrum, in Kombination mit den dort vorhandenen Läden, Cafes usw. ein attraktiver Ort urbanen Lebens entstanden. Private Räume unter freiem Himmel wie z.B. Mietergärten grenzen sich durch ihre Lage in den Blockinnenbereichen von den öffentlichen Räumen ab. Zu den Stadtteilrändern hin öffnet sich die Bebauung. Die hiesigen Punkt-, Zeilen- oder Reihenhäuser weisen mit drei bzw. vier Stockwerken aber immer noch eine relativ hohe Geschossflächenzahl auf. Es wurde aber nicht nur die Ausweisung von 78 ha dicht bebauter Fläche beschlossen, sondern als Ausgleich – wie erwähnt – 238 ha des ehemaligen Rieselfeldes als Naturschutzgebiet ausgewiesen.
Dabei werden neben Netzwerken, die wiederum durch Kommunikationsstrukturen gebildet werden, auch BewohnerInnen empowert, die sich wiederum im Stadtteil engagieren und Verantwortung für den öffentlichen Raum übernehmen.
Die beiden großen christlichen Kirchen waren von Anfang an präsent und spielen im alltäglichen Leben eine wichtige Rolle. Zudem setzte das 2004 fertig gestellte ökumenische Kirchenzentrum ganz neue Akzente. Unter dem Motto „Zwei Kirchen unter einem Dach“ wurde ein Bauwerk mit zwei Liturgieräumen realisiert, die durch das öffnen der Wände als großer gemeinsamer Raum genutzt werden können. Am Marktplatz und neben dem Stadtteilzentrum (K.I.O.S.K. e.V.) gelegen, prägt die moderne, für mache provozierende Architektur die Mitte von Freiburg -Rieselfeld.
Wenn man den Stadtteil nun aus verständigungsorientierter Perspektive beobachtet, werden unterschiedlichste zwischenmenschliche Netze, angefangen von Alltagssituationen und Begegnungen über lose Gruppierungen und organisierte Initiativen bis hin zu übergeordneten Zusammenschlüssen sichtbar, die die zivilgesellschaftliche Infrastruktur im Quartier prägen. Manche werden von den Einheimischen viel, nicht aber entsprechend von eingewanderten Minderheiten genützt.
Das Projekt K.I.O.S.K e. V.
Eine zentrale Anlauf-, Moderations- und Katalysatorenstelle für alle Art zivilgesellschaftlicher Interessen und Tätigkeiten ist das Projekt K.I.O.S.K. e.V. (K steht für Kontakt, I für Information, O für Organisation, S für Selbsthilfe und K für Kultur). Seinen Anfang nahm es 1996, also bereits vor dem Einzug der ersten „Rieselfelder“, und zwar durch das von der Kommune Freiburg finanzierte Projekt „Quartiersaufbau Rieselfeld“. Als Kontaktstelle für Praxis orientierte Forschung (nach dem Vorbild der skandinavischen Milieuarbeit konzipiert wurde das Projekt von der Evangelischen Hochschule Freiburg betreut.
Im Zuge der Entwicklung wurden folgende Handlungsziele verfolgt:
- Alltagskultur im neuen Stadtteil aufbauen und entwickeln, Anregungen und Impulse für Initiativen aus der Bewohnerschaft aufnehmen und deren Umsetzung begleiten
- Anregung der Bewohner, sich an der Entstehung und Entwicklung soziale und kultureller Infrastruktur zu beteiligen
- Eigeninitiativen fördern, selbst tragende Netze im Stadtteil aufbauen, und daran mitwirken, ein lebendiges Gemeinwesen mit guter Nachbarschaft zu schaffen.
Der Grad der Verwirklichung dessen war nicht von vornherein festlegbar und durfte auf keinen Fall im Sinne eines „je mehr desto besser“ verstanden werden, d.h. die Umsetzung konnte nicht von außen gesetzt werden, sondern nur in einem Prozess mit den Bewohner/innen erfolgen. Parallel zur baulichen Entwicklung wurde also durch das Projekt K.I.O.S.K. ein Stadtteilleben mitinitiiert und entwickelt, welches die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als einen durch die Bewohner/innen getragenen Balanceakt zwischen dem Produktions- und Reproduktionsprozesses und dem Rückzug in den privaten Raum begriff. Eine entsprechende Verortung des Vorhabens war selbstverständlich und so diente zuerst ein Bauwagen und ab 1997 ein K.I.O.S.K.-Laden mit Tagescafé als zentrale Anlaufstelle, als Informationsbüro, Nachbarschaftstreff, Versammlungs- und Diskussionsraum – inmitten der Stadtneubaustelle. 2003 übernahmen die „Rieselfelder/innen“ mit dem K.I.O.S.K.- Verein die Trägerschaft. Er führt das Projekt im so genannten Glashaus, einem von der Kommune finanzierten Neubau als Stadtteilzentrum fort. Im Kontext der durch den Verein getragenen Stadtteilarbeit sind dort auch die Kinder- und Jugendarbeit verankert, eine Kinder- und Jugendmediothek, eine Abteilung der Stadtbibliothek sowie Veranstaltungsräume für mittlerweile an die 20 Stadtteilgruppen untergebracht. Getragen wird dies durch städtische Zuschüsse, aber durch den Wirtschaftsbetrieb K.I.O.S.K. (Café, Vermietungen, Veranstaltungen, Stadtteilzeitung, monatliches „Litfass“ usw.). Der Erfolg des K.I.O.S.K.- Projekts zeigt sich am seinem 20ten Geburtstag durch Bewohnerinitiativen wie der Betrieb eines Cafés mit über 150 Ehrenamtlichen, ein Mittagstisch für Bewohner/innen, die Organisation von unterschiedlichsten Arbeitskreisen, die Durchführung von Diskussions- und Kulturveranstaltungen, von Festen und Feiern, durch die Herausgabe eines Veranstaltungskalenders und nicht zuletzt durch den engagierten Aufbau und Betrieb des Trägervereins.
Die Bürger/innen übernehmen Verantwortung für ihren Lebensraum und so wird auch von vielen die Lebensqualität im Stadtteil anhand oben genannter Eckpunkte beschrieben. Man hat Bekannte und Bekanntes, kennt Orte und ihre Gesichter. Eine Bewohnerin sagt: „Ich fühl mich wohl im Rieselfeld, weil ich das Gefühl hab, ich hab schon meine Strukturen hier. Das ist mein Laden, mein Wochenmarkt und mein K.I.O.S.K“.
Eine Voraussetzung für sozialen Einfluss, für die Entstehung von Nachbarschaften, für das Herausbilden von Zivilgesellschaft ist das Ermöglichen von Einflussnahme!
Im Ganzen betrachtet kann die bisherige Entwicklung durchaus als Erfolg gewertet werden. Allerdings wäre das Rieselfeld mit seinem für einen Neubaustadtteil ausgeprägten Gesellschaftsleben nicht das, was es ist, ohne die vielfältigen Aktivitäten und
Initiativen der Bewohner, ob als Einzelpersonen, als eine der zahlreichen Gruppen und Institutionen, ob in den Sportvereinen, im BürgerInnenverein oder in den Kirchengemeinden oder auch als intermediäre Akteure des K.I.O.S.K.-Vereins. Die Menschen sind dabei, sich ihren Stadtteil anzueignen. Zum gemeinsamen Gelingen müssen Politik und Verwaltung, professionelle wie private Akteure weiterhin beitragen.
Für die Quartiersarbeit in diesem (noch neuen) Stadtteil bedeutet dies, dass sie die Rolle eines autonomen Akteurs einnehmen muss, um sich auf die verschiedenen Teilsysteme beziehen zu können. Soziale Arbeit in und mit dem Gemeinwesen kommt nicht darum herum, Bedürfnisse, Ansprüche und Interessen sowie Rechte und Pflichten von Individuen mit der Struktur, Kultur und Dynamik gesellschaftlicher Teilsysteme zu verknüpfen, ohne von vornherein theoretisch festzulegen, wo die zu suchen sind.
Freiburg, Juni 2016
Dr. Clemens Back
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